Mein persönliches Unwort des Jahres lautet …
… nö nö, so leicht mache ich es meinen Lesern nicht. Ihr sollt schon ein Stück weiterlesen bis zur Auflösung dieses Rätsels. Nur soviel sei vorweg verraten: Es handelt sich um ein einsilbiges Wort, das nichts, aber auch gar nichts mit dem Unfug zu tun hat, der seit einigen Jahren politisch korrekt zum „Unwort des Jahres” gekürt wird. Weshalb ich von Unfug geschrieben habe? Ganz einfach: Das „Unwort des Jahres” gibt es seit 1991. Bis 1994 war für die Wahl die Gesellschaft für Deutsche Sprache zuständig, dann gab es Zoff und eine eigenständige Jury übernahm das Projekt. Fünf ständige Juroren und ein jährlich wechselnder Gastjuror wählen nun aus, was die Deutschen als unaussprechlich schlimme Vokabel oder Phrase zu verstehen haben. Fünf plus eins (wobei der Fünferclub den Gastjuror wählt) – das lässt wenig Pluralismus erwarten und so wird es auch von Jahr zu Jahr immer deutlicher.
In den ersten Jahren waren die gekürten Unworte durchaus als Kritik am Handeln von Regierungspolitikern oder Wirtschaftsführern zu verstehen. Da gab es z.B. 1994 Hilmar Koppers „Peanuts”, 1995 den Euphemismus der „Diätenanpassung” oder 2010 die Killerphrase „Alternativlos” einer gewissen Angela Merkel. In jüngerer Zeit zielen die ausgewählten Unworte mit schöner Regelmäßigkeit auf Begriffe, mit denen regierungsamtliches (Nicht-)Handeln kritisiert wird, so z.B. Corona-Diktatur (2020), Klimaterroristen (2022) oder Remigration (2023). Auf diese Weise werden Menschen, die zu nicht zu verleugnenden Missständen ihre Meinung äußern, per Unwort diskreditiert. Also nicht alle, denn wenn Doppelwumms-Olaf von Remigration spricht, ist das ersten in Ordnung und zweitens weiß jeder Zuhörer, dass das wie immer schnell in Vergessenheit gerät. Aber wehe, aus anderer Ecke kommt Kritik an ungesteuerter Zuwanderung ins Sozialsystem und die Forderung nach Rückführung …
Im Klartext: Ich nehme das alljährlich mit großem Tamtam verkündete Unwort zwar (berufsbedingt) zur Kenntnis, allerdings hat es für mich keine Relevanz mehr, da die manipulative Absicht immer deutlicher erkennbar wird. Statt dessen habe ich 2024 zum ersten Mal mein persönliches Unwort gekürt, das mit einer Unsitte zu tun hat, die im deutschen Journalismus immer mehr um sich greift. Nein, es handelt sich nicht um das Abdriften eines großen Teils meiner Berufskollegen ins linksgrüne Lager. Es handelt sich vielmehr um ein Wort, das mit nur vier Buchstaben den Niedergang des journalistischen Handwerks verdeutlicht.
Es geht um das Wörtchen „wohl”. Echt jetzt? Echt! Wer’s genau wissen will: Dieses Wörtchen gibt es als Adverb, als Adjektiv und als Partikel. In letzterer Kategorie ist es mein persönliches Unwort des Jahres. Dann nämlich drückt „wohl” eine Vermutung oder Annahme aus. Sage ich z.B. „Robert Habeck ist wohl kein Schwachkopf”, dann bedeutet das, dass ich mir dessen nicht absolut sicher bin, er also durchaus kein oder doch ein Schwach… aber das ginge jetzt zu weit. Bademantel und so.
Warum aber ist das Wörtchen „wohl” mein persönliches Unwort des Jahres? Tritt es in journalistischen Berichten zusammen mit einer Tatsachenbehauptung auf, kommt das einem geistigen Offenbarungseid des Autors gleich. Fakten sind im Journalismus heilig. Sie gelten nach der reinen Lehre erst dann als gesichert, wenn sie durch zwei voneinander unabhängige Quellen bestätigt wurden. Das gilt für den (natürlich fiktiven) Seitensprung der Bundesaußenministerin ebenso wie für die (ebenfalls fiktive) Unterschlagung von 50 Euro durch den Kassenwart des Kegelvereins „Bumskugel” e.V. Auch wenn das in der Praxis nicht immer ganz so streng gehandhabt werden kann, gilt doch: Man weiß etwas oder weiß etwas nicht. Äußert sich ein Nichtwissender zu einem Thema, nennt man das Vermutung, Spekulation oder Dummschwätzen. Noch vor 20 Jahren galten übrigens die Verlautbarungen von Polizei und anderen Behörden als „sichere Quellen”, die zwar sehr unwillig sprudelten, deren Wahrheitsgehalt jedoch in aller Regel nicht angezweifelt wurde. Das hat sich längst geändert, denn auch diese amtlichen Quellen haben den kreativen Umgang mit unangenehmen Wahrheiten für sich entdeckt. Schubserei, RKI und so …
Doch zurück zum Wörtchen „wohl”: Verwendet ein Journalist diese Vokabel in seinem Bericht, versucht er, seine Leser zu betrügen. Korrekterweise müsste er schreiben, dass die Aussage über den (natürlich fiktiven) Seitensprung der Bundesaußenministerin auf ein im Zuge einer Reise nach Kenia entstandenes Gerücht zurückgeht und durch Fakten weder be- noch widerlegt ist. Statt dessen fabuliert der Tintenspritzer, dass es „wohl” keinen Seitensprung gab. Ok, dieses Beispiel hinkt ein wenig. Aber dass der vermutlich älteste Mann der Welt gestorben ist, sagt zumindest aus, dass diese Aussage auf einer Vermutung und nicht auf belastbaren Fakten basiert. Genauso ist es auch bei den Verfahrenskosten von Prinz Harry & Co., die nicht auf genauem Wissen, sondern auf Annahmen beruhen. Schlimm, dass im Onlineportal einer sich selbst als Qualitätsmedium verstehenden Regionalzeitung diese Orakelvokabel geradezu inflationär auftritt.
Helmut Markwort, der Gründer und langjährige Herausgeber des (1993 als echtes Nachrichtenmagazin gestarteten) „Focus” verkündete sein Credo „Fakten, Fakten, Fakten und an den Leser denken” gern in Werbespots. Besser kann man journalistischen Anspruch nicht auf den Punkt bringen. Am anderen Ende der Qualitässkala stehen Schreiberlinge, die ihre Faulheit und Inkompetenz nur zu gern mit dem Partikel „wohl” tarnen und hoffen, dass der dümmstanzunehmende Leser ihre Finte nicht bemerkt. Immerhin müssen sie nicht befürchten, dass ihnen ihre Chefredaktion oder die Verlagsleitung (hier dürfen die geneigten Leser sich gern die entsprechenden Chef-Begriffe der GEZ-Sender denken) ihren Murks um die Ohren haut.
Warum? Wo Mutmaßungen statt Fakten veröffentlicht und mit dem Unwort „wohl” bemäntelt werden, kommt es nicht auf Qualität an. Dort zählen vielmehr ein flexibles Rückgrat, die stets richtige (politische) Haltung und der freiwillige Verzicht auf kritisches Denken. Schließlich will man nicht vordergründig den Lesern, Zuhörern oder Zuschauern gefallen, sondern in erster Linie den Anzeigenkunden und der politischen „Elite”, denn von dort kommt das Geld und im Fall der GEZ-Medien der Bestandsschutz. Da heißt es buckeln, nett sein und auch mal einen politischen Gegner per nicht belegter Annahme in die Pfanne zu hauen. „xyz von der bösen Partei hat wohl Kontakte nach Russland” ist hinreichend unkonkret formuliert, um keine Gegendarstellung zu riskieren, aber dennoch rufschädigend. Irgendwas bleibt schon hängen.
Außerdem ist das Schleierwort „wohl” nicht nur eine bequeme Methode, um eigenes Unwissen zu überdecken, es ist auch aus einem weiteren Grund sehr praktisch: Wenn sich der Wind dreht, kann man ganz locker behaupten, dieses und jenes ja nie gesagt, sondern nur als Annahme in den Raum gestellt zu haben. Im schlimmsten Fall haben halt die Quellen falsche Informationen verbreitet und das habe man als Redaktion nicht wissen können. „Wir sind da wohl selbst zum Opfer geworden”.
Falls es jemanden interessiert: Natürlich habe ich auch ein persönliches Wort des Jahres: Es lautet Schwachkopf. Ich finde es einfach herrlich, dass man dieses Wort einfach so dahersagen oder dahinkritzeln kann und jeder weiß, was es bedeutet und auf wen es gemünzt ist. Sogar der, der nicht Schwachkopf genannt werden darf, und auch ganz sicher nicht gemeint ist. -ad
PS.: Einen hab‘ ich noch …