Von Athen nach Berlin: Parallelstrukturen und deren historische Parallelen.
Volltextsuche im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. „Ministerpräsidentenkonferenz”? Null Treffer. Fehlanzeige auch beim „Bürgerrat”. Beide sind keine Verfassungsorgane, sondern Gremien, deren Beschlüsse alles andere als rechtsverbindlich sind. Sie gehören zu den gar nicht so seltenen Parallelstrukturen, die darauf abzielen, Bedeutung und Einfluss vorhandener Organe und Strukturen zu unterminieren. Diese Methode ist nicht neu, sie hat sich schon in der Antike bewährt.
„Es war an einem lauen Sommerabend vor 2.500 Jahren.” Halt, zurück auf Anfang. Wir sind hier nicht bei „Big Bang Theory” und Sheldon Cooper spielt auch nicht mit. Es war vor reichlich 2.500 Jahren, genauer gesagt: 508 und 507 v. Chr. Da schickte sich ein gewisser Kleisthenes von Athen an, in seiner Stadt die Weichen in Richtung Demokratie zu stellen. Mit den Kleisthenischen Reformen wurde die bis dahin dominierende Macht adliger Geschlechter dahingehend eingeschränkt, dass nun alle (männlichen) Vollbürger unabhängig von Besitz und Vermögen an politischen Entscheidungen mitwirken konnten. So entwickelte sich etwas, das wir heute als Mitmachdemokratie bezeichnen würden.
Mit dem Rat der 500 (*¹: mehr dazu siehe Fußnote am Ende des Textes) wurde ein Parlament ins Leben gerufen, in dem jede der zehn regionalen Phylen (in etwa vergleichbar mit Wahlkreisen) mit 50 gewählten Mitgliedern vertreten war. Damit waren die Vertreter von Adelsgeschlechtern nicht mehr „gesetzt” (obgleich ihre wirtschaftliche Stärke und ihr Bildungsvorsprung ihnen nach wie vor nutzten). Das war insofern ein cleverer Schachzug, da Kleisthenes keinen Frontalangriff auf die bisherige Machtbalance fuhr, sondern deren Grundstruktur beibehielt, diese jedoch durch eine Parallelstruktur ergänzte und letztlich schwächte.
Kehren wir nun zurück ins Jahr 2024, also in das lt. regierungsamtlichem Selbstverständnis beste Deutschland aller Zeiten. Auf den ersten Blick sind die Kompetenzen dank des Grundgesetzes klar geregelt. Es gibt den Deutschen Bundestag, dessen von Volk gewählte Mitglieder offiziell nur ihrem Gewissen verpflichtet sind. Wer’s glaubt … Die Abgeordneten stimmen über Gesetzesvorlagen und beschließen (soweit es nicht ans Grundgesetz geht) mit einfacher Mehrheit, was geht und was nicht. Als zusätzliche Instanz gibt es den Bundesrat. Erst wenn (zustimmungspflichtige) Gesetze auch diese Länderkammer passiert haben, können sie in Kraft treten.
Allerdings ist dieser wohlstrukturierte demokratische Prozess einigen Leuten ein Dorn im Auge. Also nicht der Prozess an sich, sondern die Tatsache, dass dessen Ergebnisse nicht immer den Wunschträumen ideologiegetriebener Irrwichte entspricht. Was tun, um trotz der realen Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag zum gewünschten Ergebnis zu gelangen? Was tun angesichts der Tatsache, dass nicht zu erwarten ist, dass sich im Ergebnis der nächsten Bundestagswahl etwas in die gewünschte spinnerte Richtung ändert?
Nun mag es den wunschträumenden Ideologen an Bildung und Praxisbezug mangeln, dafür nicht an Intriganz und Bauernschläue. Auch wenn die meisten von ihnen noch nie etwas mit Geschichte am Hut hatten und Kleisthenes am ehesten für den Erfinder des Tapetenkleisters halten würden, nutzen sie seinen Trick und lassen Parallelstrukturen aufleben. So wird dann plötzlich ein Bürgerrat ins Leben gerufen: 2023 berief der Deutsche Bundestag z.B. den Bürgerrat „Ernährung im Wandel”. Dessen Mitglieder wurden lt. Selbstdarstellung zufällig ausgelost und bilden „Deutschland im Kleinen” ab. Welch Zufall, dass im Bürgerrat „Ernährung im Wandel” Vegetarier und Veganer ein wenig … nunja … überrepräsentiert waren.
Christoph Degenhart, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, sieht in den Bürgerräten die Gefahr einer Schwächung der Demokratie: „Je mehr Bedeutung den Empfehlungen dieses Gremiums zugemessen wird, desto mehr gerät das Projekt in Konflikt mit dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie.” Soll heißen: Wenn der Bürgerrat laut genug trötet und tönt, könnte das die Mandatsausübung der Abgeordneten beeinträchtigen. Wer schon einmal erlebt hat, in welchem Maße selbsternannte Baumschützer, Krötenfreunde und ähnliche Figuren einen Gemeinderat samt Bürgermeister unter Druck setzen, kann diese Sorge sicher nachvollziehen.
Wen wundert’s da, dass im besten Deutschland aller Zeiten weitere Bürgerräte folgen?
Ein anderes, allerdings ähnlich kurioses Gremium ist die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK). Sie ist im Grundgesetz nicht erwähnt und auch kein Verfassungsorgan. Die MPK ist ein durchaus positiver Auswuchs des Föderalismus, der es den Bundesländern gestattet, mit anderen Bundesländern zusammenzuarbeiten. Immerhin hat die MPK zwei gute Seiten: Erstens werden ihre Mitglieder tatsächlich gewählt und nicht pseudozufällig ausgelost; zweitens hat sich die MPK 1992 auferlegt, dem Bundesrat nicht ins Handwerk zu pfuschen. Soll heißen: Wenn Themen im Bundesrat behandelt werden, dürfen sie nicht Gegenstand der MPK sein.
Um die MPK ist es meist recht still; nur die wenigsten Deutschen wissen, dass es sie seit 1947 gibt. Ins Rampenlicht rückte die MPK während der Corona-Plandemie, als die Länderchefs über dikatorische Maßnahmen berieten und die Weichen dafür stellten, dass Kinder polizeilich vom Rodelhang vertrieben wurden, es verboten war, auf einer Parkbank ein Buch zu lesen oder gar Ungeimpften der Zugang zu Kirchenbänken (mit Sitzkissen) und Weihnachtsmärkten verwehrt wurde. Falls sich jemand erinnert: Einen erheblichen Unterhaltungswert hatte der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow, der in nicht ganz alkoholfreiem Zustand einräumte, während der MPK Candycrush zu spielen. Trotz dieses heiteren Outings ist die MPK vor allem eines: Ein durchaus nützliches Gremium, das während der Plandemie einen beängstigenden Hang zur Selbstermächtigung erkennen ließ und – obwohl nicht zu rechtsverbindlichen Beschlüssen befugt – eben solche zu fassen Vorgab und die Kompetenzen des Bundestages untergrub. Schließlich konnte mit Verweis auf „das hat die MPK so beschlossen” gleich mehrfach am Grundgesetz vorbei regiert werden.
Ob sich das die Athener so vorgestellt hatten?
*¹:Zitat aus Karl-Wilhelm Weeber, „Hellas sei Dank”, S. 46/47, ISBN 978-3-8275-0009-0
„Das Herzstück der neuen Verfassung war der neu geschaffene Rat der 500. Er ersetzte nicht den alten Aeropag, der aus dem adligen Beratergremium des Königs hervorgegangen war und sich zu Kleisthenes’ Zeit aus den ehemaligen Oberbeamten (Achonten) rekrutierte. Das alte Gremium blieb zunächst auch noch in seinen wichtigsten Funktionen etwa als Gericht bei Kapitalverbrechen unangetastet. Aber die neue Boulé (‘Rat’) entwickelte sich rasch zu einem politischen Schwergewicht, das die Bedeutung der älteren Institution immer stärker überlagerte.
Alte Strukturen nicht zerschlagen, aber sie durch parallele neue Strukturen zu schwächen, dieses Prinzip verfolgte Kleisthenes auch in seiner Neuordnung der Bürgerschaft. …”,
Wenn’s gefallen hat … darf hier gern für einen Kaffee oder mehr gespendet werden.