Nachdenken über olympische Mythen. Alles ist ganz anders.
Puuuh. Die Olympischen Sommerspiele 2024 sind Geschichte. Und nein, ich werde jetzt nicht über blasphemische Eröffnungsbilder, das schräge Farbkonzept, die verkeimte Seine oder gar über Kerle schreiben, die Frauen verprügeln. Ich werde auch nicht darüber lästern, dass dem IOC nach und nach die Sponsoren davonlaufen, weil das woke Konzept des Fünfringekonzerns ihnen das Geschäft zu verhageln droht. Mir geht es vielmehr darum, dass der oft beschworene olympische Geist und das antike Ideal nicht viel mit den olympischen Spielen der Neuzeit gemein haben. Olympia und seine Seele waren nämlich anders.
Eines vorweg: Es gibt auch Gemeinsamkeiten zwischen den Olympischen Spielen der Neuzeit und dem antiken Vorbild. Sowohl das griechische Original als auch das moderne Imitat waren bzw. sind im Kern kommerzielle Veranstaltungen. Daran ändert es auch nichts, dass die Spiele der Antike (von denen es übrigens mehr als nur die im heiligen Hain von Olympia gab) Gottheiten gewidmet waren.
Damals wie heute waren es keine ambitionierten Amateure, die zu den Wettkämpfen antraten, sondern Profisportler. Wer nun einwendet, dass die Olympischen Spiele der Neuzeit ja bis in die 1970er Jahre Amateuren vorbehalten waren, zeigt nur, dass er vom Thema wenig Ahnung hat. Wenn Skilehrer (wie 1936 geschehen) als Nicht-Amateur galten und nicht bei Olympia starten durften, während später die DDR-Sportler mit Alibi-Job in einem VEB bzw. die Sportsoldaten der Bundeswehr als Amateure durchgingen, zeigt das doch nur die Absurdität dieser Ausgrenzung. Die Athleten der Antike trainierten nicht „nebenbei” und womöglich nach der Arbeit auf dem Feld, sondern widmeten sich ihrem Training so intensiv wie heutige Hochleistungssportler und Profis – weil sie es sich leisten konnten. Sport hatte, wie auch die Wissenschaft, im antiken Griechenland nicht dem Broterwerb zu dienen, sondern zum Selbstzweck ausgeübt zu werden.
Ein Athlet lief die 192,24 m des (olympischen) Stadions als Teil des klassischen Pentathlon für den Ruhm des Siegers (und nahm den Preis dankend mit), während ein bezahlter Botenläufer wie Pheidippides gesellschaftlich auf gleicher Stufe wie ein Handwerker stand. Dieses Standesdenken war auch der Grund dafür, dass Baron Pierre de Coubertin seine Olympischen Spiele der Neuzeit ausschließlich für Amateure öffnete, also für solche Athleten, die es nicht nötig hatten, den Sport für Geld auszuüben.
Doch nun ist Zeit für die Unterschiede zwischen den Olympischen Spielen der Antike und denen der Neuzeit. Da ist zunächst der olympische Frieden. Im antiken Griechenland waren militärische Auseinandersetzungen zwischen den Stadtstaaten (einen griechischen Staat im heutigen Sinne gab es noch nicht) an der Tagesordnung; es ging vor allem um Gebietserweiterungen. Hinzu kamen Angriffe äußerer Feinde. Der antike olympische Friede wurde drei Monate vor Beginn der Spiele ausgerufen und garantierte Athleten, Zuschauern, Künstlern und allen anderen Olympiatouristen Sicherheit für An- und Abreise und während der Spiele. Es liegt in der Natur der Sache, dass das nicht immer klappte, aber im Wesentlichen wurde der Waffenstillstand eingehalten.
Coubertins olympischer Friede hingegen zielte auf internationale Verständigung und das Überwinden nationaler Egoismen ab. Statt einander auf dem Schlachtfeld zu bekämpfen, sollte die „Jugend der Welt” sich in sportlichen Wettkämpfen messen. Dass das wie beim antiken Friedensvorbild auch nur so mittelgut funktionierte, ist hinlänglich bekannt. Man denke an München 1972, die Annektion der Krim, den Einmarsch in Afghanistan oder Georgien.
Apropos „Jugend der Welt”: Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich die neuzeitlichen Olympischen Spiele grundsätzlich von denen der Antike. Während in der heutigen Zeit jedes noch so winzige Völkchen seine(n) Athleten zu den Spielen schickt, auf dass der Ruhm des IOC noch heller leuchten möge, waren die Spiele der Antike griechischen Athleten vorbehalten. Man blieb unter sich und wollte keine Barbaren im Heiligen Hain von Olympia. Aufgeweicht wurde diese Einschränkung erst unter römischer Herrschaft.
Und wie unterscheiden sich die Zeremonien der Antike von denen der heutigen Olympischen Spiele? Kurz gesagt: gewaltig! Man muss nicht die blasphemische Eröffnungszeremonie samt der athletenfeindlichen Gondelei auf einem dreckigen Fluss im strömenden Regen verfolgt haben, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass moderner nicht unbedingt besser bedeutet. Wer das olympische Feuer im, Austragungsort entzündet, ist heute ein wokes Politikum nach dem Motto „Je kranker, desto brennt’s”. Im antiken Olympia wurde das Feuer vom Sieger des Laufes über die Stadion-Distanz entzündet. Wer am schnellsten die 192,24 m zurücklegte, hatte die Ehre, das Feuer auf dem Altar vor dem Zeus-Tempel zu entzünden. Im Inneren des 456 v. Chr. errichteten Tempels befand sich mit der Zeus-Statue des Phidias eines der sieben antiken Weltwunder. Auch die Abschlussveranstaltungen der Olympischen Spiele waren damals deutlich anders als heute. Während heute noch einmal dabei ist, wer sonst nichts zu tun und genügend Euro auf dem Spesenkonto hat, war der Auftritt am Ende der Spiele in der Antike den Olympioniken, also den Siegern, vorbehalten. Nur sie durften an der festlichen Prozession zum Zeus-Tempel samt anschließender Party teilnehmen.
Wie steht es eigentlich um die gleichberechtigte Teilnahme männlicher und weiblicher Athleten? Schlecht! Olympia war in der Antike fest in Männerhand. Das galt anfangs auch für die neuzeitliche Wiederbelebung der olympischen Idee, was im historischen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts durchaus nachvollziehbar ist. In Athen traten 1896 jedenfalls ausschließlich Männer zu den Wettkämpfen an, alles in allem war die Schar der 295 Aktiven aus nur 13 Nationen eher überschaubar. Coubertin war auch weiterhin gegen die gleichberechtigte Olympia-Teilnahme von Frauen, was ihn 1914 sogar zum Rücktritt vom Amt des IOC-Präsidenten veranlasste. Zur zunehmend woken Ausrichtung des IOC, die in Paris mitunter brechreizerregende Dimensionen annahm, schweigt des Schreiberlings Höflichkeit.
Doch zurück in die Antike: Bei den Spielen waren ausschließlich männliche griechische Vollbürger startberechtigt. Auf den Zuschauerrängen durften ebenfalls nur freie Männer Platz nehmen, außerdem unverheiratete Frauen. Bei Verstößen drohte die Todesstrafe. Auch als Trainer waren ausschließlich Männer zugelassen. Damit die Einhaltung dieser Regel auch per Augenschein geprüft werden konnte, wurde mit den 95. Olympischen Spielen ein Bekleidungsverbot eingeführt. Schuld daran war eine gewisse Kallipatire, die ihren Sohn als Trainer betreute und sich beim Jubeln über dessen Sieg versehentlich unschicklich entblößt hatte.
Als historisches Kuriosum sei erwähnt, dass es in der Antike dennoch weibliche Olympiasieger gab. Beim Wagenrennen gebührte der Kranz vom Ölbaum nämlich nicht dem siegreichen Fahrer, sondern dem Besitzer des Rennstalls. Auf diese Weise wurde die spartanische Prinzessin Kyniska 396 und 392 v. Chr. Olympiasiegerin mit dem Viergespann. Damit ist sie die erste historisch verbürgte Olympionikin.
Nach diesem Exkurs in die Welt des kleinen Unterschiedes geht es nun weiter mit den größeren Unterschieden zwischen Olympia einst und jetzt. Da wäre die Sache mit dem Olympischen Feuer und dem Fackellauf. Das Feuer gab es bereits in der Antike, es war Hestia, der Göttin des Herd- und Opferfeuers, gewidmet. Die Boten, die den griechischen Städten in der Antike den Termin der Spiele und den olympischen Frieden verkündeten, waren allerdings ohne Fackeln unterwegs. Das ist durchaus sinnvoll, denn anderenfalls hätten die aus Ölzweigen gewundenen Kränze der Boten womöglich noch Feuer gefangen. Den neuzeitlichen Staffellauf mit dem olympischen Feuer gab es erstmals bei den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin. Wirkungsvoll in Szene gesetzt wurde er in Leni Riefenstahls Olympiafilm „Fest der Völker” (Dieser ist trotz seines Propagandacharakters auch heute noch anschauenswert, genau wie die Fortsetzung „Fest der Schönheit”).
Eine nur wenig bekannte Ironie der Geschichte ist der Umstand, dass der Olympische Fackellauf keine Erfindung der Nazis ist. Die Idee dazu hatte der jüdische Archäologe und Sportfunktionär Alfred Schiff, umgesetzt wurde sie durch den Sportfunktionär Carl Diem, der durchaus das heute oft leichtfertig gebrauchte Attribut „umstritten” verdient hat.
Coubertins idealistisch angehauchter Spruch „Teilnehmen ist wichtiger als Siegen” macht einen weiteren gravierenden Unterschied zur Antike deutlich. Natürlich ist eine Olympiateilnahme für jeden modernen Athleten ein Höhepunkt seiner sportlichen Karriere, doch ohne Medaille, die am besten golden zu glänzen hat, zählt der Ausflug zu den Spielen nicht wirklich. Ein Olympiasieg hingegen ist etwas für die Ewigkeit.
In der Antike galt bei den Olympischen Spielen ausschließlich der Sieg etwas, ein zweiter oder dritter Platz zählte nichts. Der Sieger machte seiner Heimatstadt Ehre und wurde gefeiert. Ein Olympionike erhielt Prämien und Geschenke, ihm wurden unterschiedliche Privilegien bis hin zur Steuerbefreiung gewährt. Das galt auch dann, wenn er den Sieg z.B. beim Ringen kampflos errungen hatte, da kein Gegner gegen ihn anzutreten wagte.
Übrigens: Es spricht für einen Mangel an Bildung, den Begriff des Olympioniken pauschal auf alle Teilnehmer anzuwenden, wie es insbesondere schnellbesohlte Journalismusdarsteller gern tun. Im Olympioniken steckt (natürlich nur im übertragenen Sinn) die Siegesgöttin Nike (noch ein Tipp: Der amerikanische Latschenproduzent Nike mit dem putzigen Swoosh-Logo wird [ ] gesprochen, die Göttin jedoch [ ]. Im Klartext: Olympionike ist nur, wer Gold geholt hat. Alle anderen sind Olympiatouristen. Und weil ich gerade einmal den Klugscheißermodus aktiviert habe: Das, was in epischer Peinlichkeit im Sommer 2024 in Paris abging, waren die Olympischen Spiele, nicht die Olympiade. Der letztgenannte Begriff bezeichnet nicht die Spiele, sondern den zeitlichen Abstand zwischen ihnen. Also: Eine Olympiade dauert vier Jahre. Nur für den Fall, dass die Leser meines kleinen Tagebuches mal bei Jauch sitzen; ich freue mich über Prozente 😉
Beim Vergleich der antiken und heutigen olympischen Sportarten sollte selbst dem maximal pisageschädigten neuzeitlichen Freitagshüpfer dämmern, dass es Unterschiede gibt. Ja, in der Antike gab es weniger (und oft andere) Sportarten als heute, wobei es bei einigen der neuzeitlichen Putzigkeiten nicht schade wäre, würden sie schlichtweg verschwinden.
Vorweg: Der heute am (vor)letzten Tag der Spiele ausgetragene Marathon der Frauen bzw. Männer hat nichts mit den antiken Spielen zu tun. Kurz gesagt: Die alten Griechen hatten es mit Gerenne über längere Strecken nicht so und absolvierten den Stadionlauf über gut 190 m. Es gibt zwar die Legende vom heldenhaften Läufer, der nach der Schlacht bei Marathon nach Athen eilte, um dort neben der Siegesbotschaft seine eigene Todesnachricht zu überbringen, doch diese Legende ist so falsch wie Hoffnung, dass es dem IOC um den Sport und nicht den eigenen Profit gehen könnte.
Dass es den Marathonlauf gibt, verdanken wir Michel Bréal. Er regte für die 1. Olympischen Spiele der Neuzeit einen Lauf von Marathon nach Athen an und stiftete für den Sieger einen Pokal. Es ging also schon 1896 um Sponsoren 😉 Vor der Premiere des olympischen Marathons fanden übrigens zwei Testläufe statt: Den ersten Test drei Wochen vor den Spielen gewann Charilaos Vasilakos, zwei Wochen später lief Ioannis Lavrentis beim zweiten Testlauf in 3:11.27 h ins Ziel. Der spätere Olympiasieger Spiridon Louis finishte in 3:18:27 h als Fünfter. Eine Woche danach holte sich Spiridon Louis den Olympiasieg mit einer Zeit von 2:58:50 h.
Doch zurück zu den antiken Sportarten. Um es kurz zu sagen: Im Heiligen Hain von Olympia gab es für die bis zu 100.000 Besucher in jeglicher Hinsicht (!) deutlich weniger Vielfalt als für die Besucher der modernen gigantomanischen Spiele. Insgesamt war das Wettkampfprogramm erkennbar von den militärischen Bedürfnissen der beteiligten Stadtstaaten geprägt. Es wurde über verschiedene Distanzen gelaufen. Üblich waren Strecken von einem oder zwei Stadien. Da es keinen Rundkurs gab, mussten die Athleten nach halber Strecke wenden. Die längsten Distanzen gingen über 20 oder 24 Stadien, also weniger als 5.000 m. Gelaufen wurde barfuß aus aufrechter Position. Frühstarter wurden mit Stockschlägen zur Räson gebracht.
Historisch belegt ist ab 520 v. Chr. der Hoplitenlauf am jeweils letzten Tag der Spiele, ein Waffenlauf über zwei Stadien in voller Ausrüstung eines Hopliten, d.h. mit Speer, Helm, Beinschienen und Schild. In späterer Zeit wurden die Bedingungen dahingehend gelockert, dass die Läufer nur noch Helm und Schild mitführen mussten.
Außerdem gab es Ringen und Faustkampf sowie die bereits erwähnten Wagenrennen. Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar war die Disziplin Pankration, ein Allkampf, bei dem bis aufs Beißen und in die Augen des Gegners stechen praktisch alle Attacken erlaubt waren. Den Sieg errang, wer seinen Kontrahenten zum Aufgeben zwang, ihn kampfunfähig machte oder tötete.
Höhepunkt des antiken olympischen Programms war unbestritten der erstmals 708 v. Chr. belegte Fünfkampf. Die fünf Wettbewerbe dieses Pentathlon wurden an einem Nachmittag abgehalten. Disziplinen waren Diskuswerfen, Weitsprung, Speerwerfern, Stadionlauf und Ringkampf. Allerdings unterschieden sich die einzelnen antiken Disziplinen z.T. erheblich von den heutigen. So wurde der Weitsprung als Fünfsprung mit Sprunggewichten durchgeführt. Auch die Regeln beim Ringen wären aus heutiger Sicht zumindest gewöhnungsbedürftig. Im Unterschied zum heutigen modernen Fünfkampf, der aktuell gerade eine grundlegende „Modernisierung” erdulden muss, konnte der Pentathlon auch enden, bevor alle fünf Disziplinen durchgeführt wurden. War die Sache frühzeitig entschieden, d.h. stand der Sieger fest, wurde z.B. aufs Ringen verzichtet. Wozu sich noch anstrengen, wenn es ohnehin nichts mehr bringt.
Übrigens: Dass wir heute von Olympischen Spielen reden und es ein IOC gibt, ist letzten Endes dem Erfolg der umfangreichen Ausgrabungen im antiken Olympia geschuldet. 1766 wurden die Anlagen wiederentdeckt, ab 1875 unter dem deutschen Archäologen Ernst Curtius ausgegraben. Damit kam der Wunsch auf, den olympischen Gedanken neu zu beleben, womit Pierre de Coubertin zum Zuge kam.
Allerdings waren die Olympischen Spiele der Antike kein singuläres Ereignis. Im Gegenteil: Neben Olympia gab es Spiele in Korinth, in Nemea und Delphi. Höchsten Ruhm als Periodonike erlangte, wer innerhalb des Vierjahreszeitraums einer Olympiade alle vier Spiele für sich entscheiden konnte. Dass es noch eine ganze Reihe weiterer, jeweils bestimmten Göttern gewidmete Spiele gab, wurde bei der Untersuchung des Mechanismus von Antikythera deutlich. Dieses mechanische Wunderwerk zeigt auf seiner Rückseite die Daten der uns bekannten sowie gleich mehrerer z.T. noch unbekannter Spiele an. Die Sache mit Olympia hätte also ganz anders ausgehen können …
Ein letzter Gedanke zum Thema, der sich (nicht nur mir) angesichts der zunehmenden Wokisierung der Spiele aufdrängt und gerade in Griechenland, der Heimat der Olympische Spiele, rege diskutiert wird. Ist der ganze durchkommerzialisierte Wanderzirkus namens Olympische Spiele der Neuzeit genau betrachtet nicht eine Form der kulturellen Aneignung? Wären die Spiele nicht an ihrem Ursprungsort in Griechenland besser aufgehoben als in irgendwelchen künstlichen Scheinwelten, die der Selbstdarstellung von Despoten und des IOC dienen? Wäre das nicht auch viel nachhaltiger, als rund um den Globus immer neue gigantomanische Bauten hinzuklotzen? Man sollte darüber nachdenken, die Griechen wären bereit, ihrem verlorenen Kind eine dauerhafte Heimat zu geben. Dass sie Olympia immer noch können, haben sie 1896 und 2004 bewiesen. -ad